Gelungenes Pasticcio – Aber Rekonstruktion?
Gelungenes Pasticcio - Aber Rekonstruktion?
Alexander Ferdinand Grychtolik ist ein ausgewiesener Experte, derzeit vielleicht der Fachmann, wenn es um die Frage der Wiedererlangung fragmentarisch oder verschollener Werke von Johann Sebastian Bach geht.
Dieses Mal hat er sich eines Textes von Christian Friedrich Picander (1700 bis 1764), auch Picander genannt, angenommen. Es handelt sich um den in der Sammlung:
„Sammlung erbaulicher Gedancken ueber und auf die gewoehnlichen Sonn- und Festtage“
von 1725 veröffentlichte Text:
„Erbauliche Gedanken auf den Grünen Donnerstag und Charfreitag ueber den Leidenden Jesum.“
In der Bach-Forschung spekuliert man darüber, daß er als Vorlage für ein Passion-Oratorium gedient haben könnte, welches durch JSBach in Musik gesetzt worden sein könnte, 1725 aufgeführt werden sollte. Zu dieser Aufführung kam es allerdings nicht und anstelle dessen, wurde BWV 245.2, die zweite Fassung der Johannes-Passion aufgeführt. Die Gründe für die Nichtaufführung sind unbekannt, aufgrund der dünnen Beweislage könnte es allerdings schlicht und einfach so gewesen sein, daß JSBach nie diesen Text in Musik gesetzt hat. Es sind durch JSBach keinerlei Noten, weder Partitur, noch Stimmen, geschweige denn ein entsprechendes, damals zu der Aufführung üblicherweise erwerbbares Textheft überliefert; im Gegensatz zu BWV 247.1 & 247.2, den zwei Fassungen der Markus-Passion.
Einzig alleiniger Bezugspunkt ergibt sich über sechs Arien der Matthäus-Passion BWV 244, hier findet sich die Verwendung von Text-Fragmenten, ähnlichen Versschemata und Silbenzahlen, die Parodiebezüge vermuten lassen könnten, aber nicht zwangsläufig sein müssen. Ebenso gibt es eine Arie aus der A-Dur Messe BWV 234, die man als Parodievorlage ansehen könnte. Zu den restlichen Arien, Chören, Chorälen und Recitaiven ist nichts überliefert, es gibt keine offensichtlichen direkten Parodiebezüge.
Grychtolik setzt voraus, daß die sechs Arien der Matthäus-Passion und die Arie aus BWV 234, Parodien aus dem Passions-Oratorium sind und rücküberträgt diese in das Passions-Oratorium.
Für die restlichen Arien/Chöre/Choräle sucht er im reichen Werk Bachs nach evtl. passenden Stücken. Die Recitative komponiert er im Stile JSBach nach.
Herr Grychtolik hat hier allerdings etwas Außergewöhnliches geschaffen. Er hat die Arien und Chören perfekt Rückübertragen, sehr gute, fast perfekte weitere Vorlagen gefunden und sehr gute, sinnvolle Umbesetzungen gefunden.
Ganz entscheiden zum Erfolg trägt bei, daß er sich mittlerweile dermaßen gut in den Recitativ-Stil JSBachs hineingedacht hat, daß es beim Hören keinen wahrnehmbaren Bruch gibt.
Die Recitativ-Text im Sinne und Stil JSBach sehr gut umgesetzt, nachkomponiert sind.
Solche Brüche, waren z. Bsp. noch bei seinen Rekonstruktionen der Köthener Trauermusik BWV 244a oder der Markus-Passion BWV 247 deutlich (störend) wahrnehmbar. Diese Rekonstruktionen würde davon gewinnen, wenn er sie mit seinen gemachten Fortschritten überarbeiten würden.
Allerdings stellt sich die Frage, ob man aufgrund der geringen Sachlage, den zu geringen Beweisen, wirklich von einer Rekonstruktion / einem Rekonstruktionsversuch / einer Vervollständigung sprechen kann oder sollte.
Meiner Meinung nach nicht, es gibt zu wenig sicheres Material dazu, es gibt zu viele Konjunktive!
Jedoch ist es in bester barocke Manier, ein handwerklich sehr gut gemachtes Pasticcio. Bestens im Sinn der Zeit JSBach umgesetzt. JSBach würde seinem Schüler Grychtolik sicherlich anerkennend auf die Schulter klopfen.
Auch interpretatorisch ist die Umsetzung ein Glücksfall.
Seine Musiker, sei es vokal oder instrumental, sind alle hervorragend. Ein selten gutes Team, eine schöne emotionale Bandbreite ohne Übertreibung, eine hohe Geschlossenheit im Vortrag, technisch sind alle bestens disponiert.
Die Aufnahmetechnik unter Jean-Daniel Noir, hat hier ihr Bestes gegeben. Die Vokalisten sind allesamt sehr gut aufgenommen, klanglich nahe, aber unaufdringlich, jede Textsilbe ist zu verstehen. Alles aber doch mit angenehmen räumlichen Klang, die Ensemble-Stücke sind angenehm chorisch, homogen und doch ist jede Stimmgruppe, jeder Stimmverlauf sehr gut zu hören, gleiches gilt im Bereich der Instrumente.
Insgesamt ein hervorragend gelungenes Projekt im Sinne der barocken Pasticcio-Technik.
Aber eben keine Rekonstruktion. Vielmehr ist es ein Werk von Alexander Ferdinand Grychtolik unter Verwendung von Musik Johann Sebastian Bachs und den notwendigen Anpassungen an den Picander-Text, sowie den sehr guten neu komponierten Recitativen Grychtoliks.
Es macht eine Freude diese Aufnahme zu hören, eine weitere, schöne Möglichkeit in der Passionszeit dem Leid Jesu Christ zu nachzusinnen, zu gedenken. Sie ist wärmstens zu empfehlen.
Allerdings gibt es einen kleinen, nicht sehr kundenfreundlichen, Wermutstropfen.
Die eigentlich das Passion-Oratorium einleitende Sopran-Arie Sammlet euch, getreue Seelen, hat man leider nicht auf die CD gepresst, sie ist nur über entsprechende Download-Portale erhältlich, warum ist nicht verständlich.
Zeit für einen Appendix hätte es auf beiden CDs noch reichlich gehabt (CD01: 46:52; CD02: 35:53)
Dies sollte man vielleicht bei einer zweiten Auflage revidieren.